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Transkript zu Episode 8: „Gute Kinderfilme und Kinderbücher sind Verbündete“

„Beim Lesen erfahre ich, was Menschen denken und fühlen“, findet Kirsten Boie. Ihre Wünsche für die Zukunft: KiKA soll sich noch mehr für breitere Bevölkerungsschichten öffnen und unsere Gesellschaft soll bildungsgerechter werden.

Kirsten Boie: Ich bin bei Büchern ganz oft in anderen Köpfen unterwegs. Also ich erfahre, was Menschen denken und fühlen.

[Intro] „Generation Alpha – Der KiKA-Podcast“

Inka Kiwit: Und wir hoffen, wir sind mit unseren Podcast-Folgen in Ihren Köpfen unterwegs. Und damit: Hallo zusammen zu „Generation Alpha – Der KiKA-Podcast“. Ich bin Inka Kiwit und begleite Sie heute durch diese Folge. Wir bleiben mal ganz kurz in Ihrem Kopf. Denken Sie mal an das letzte gute Buch, das Sie gelesen haben. Oder vielleicht auch an die letzte packende Serie, die Sie in den Bann gezogen hat. Haben Sie sich auch immer so sehr darauf gefreut nach einem langen Tag in diese ganz andere Welt zurückkehren zu können? Also ich zumindest bin jedes Mal wieder davon fasziniert, was für eine Anziehungskraft, ja, von guten Geschichten ausgehen kann. Und wir haben heute jemanden zu Gast, der solche Geschichten kreiert. Sie ist Autorin, und das kann man schon so sagen, eine Meisterin des guten Contents für Kinder. Kirsten Boie, so heißt Sie. Sie ist eine der bekanntesten Kinderbuchautorinnen in ganz Deutschland. Und Sie ist schon ganz lange, ganz eng mit dem Programm des Kinderkanals verbunden. Neben Büchern schreibt Sie nämlich auch Drehbücher. Und Ihr letztes, das war das Drehbuch für den Kurzfilm „Paule und das Krippenspiel“. Der Film der wurde in den letzten beiden Jahren zu Weihnachten im Programm bei KiKA gezeigt. Und die Geschichte, die stammt aus Kirsten Boies allererstem Kinderbuch, vor 35 Jahren war das. Und wer schon so lange Geschichten für Kinder zu Papier bringt, der hat auch eine Vision, einen Wunsch, wie die Zukunft der jetzt gerade heranwachsenden Generation aussehen sollte.

Kirsten Boie: Ich wünsche mir für die Generation Alpha eine gerechtere Gesellschaft, bei uns vor allen Dingen eine bildungsgerechtere Gesellschaft. Daran hängt nämlich alles weitere.

Inka Kiwit: Wie diese bildungsgerechtere Gesellschaft Wirklichkeit werden kann, über die Herausforderung zeitgemäße und vor allem zeitlose Geschichten für Kinder zu schreiben und warum Kinderbuch und Kinderfilm ganz enge Verbündete sind - genau darüber habe ich mit Kirsten Boie gesprochen. Hallo Frau Boie, ich freue mich sehr, dass Sie heute bei uns sind.

Kirsten Boie: Ja, ich freue mich auch.

Inka Kiwit: Unsere Gäste erwartet zu Beginn eine besondere Frage. Und ich würde von Ihnen total gerne wissen: Wenn Sie in einem Buch in einer Geschichte für den Rest Ihres Lebens leben dürften. Welche würden Sie wählen? Und warum?

Kirsten Boie: Oh, das ist ja so eine unfaire Frage. Wirklich wahr. Wirklich. Ich glaube, da würde ich mir tatsächlich eine Idylle aus - vielleicht Saltkrokan, wenn ich da dazu dürfte. Das wäre ja dann ein sehr behagliches Leben mit vielen netten Menschen, einer angenehmen Gemeinschaft und ohne all die großen Probleme, die uns umtreiben. Vielleicht würde ich nach einer Weile denken: Na es ist ja doch ein bisschen ein merkwürdiges Leben, in dem überhaupt keine Schwierigkeiten auftauchen. Aber dann lieber da als in irgendeinem Problembuch.

Inka Kiwit: Kann ich sehr nachempfinden. Frau Boie, Sie sind lange schon Autorin. Sie schreiben noch immer viele Geschichten für Kinder. Was macht denn eine starke Kindergeschichte aus? Gibt es so etwas wie ein Rezept?

Kirsten Boie: Glaube ich nicht. Also deshalb gibt es ja auch immer wieder so große Überraschungen. Zunächst mal, was ist überhaupt eine Kindergeschichte? Über welches Alter reden wird denn? Eine Geschichte für Zwei- oder Dreijährige hat ja nichts zu tun mit einer Geschichte für 14-Jährige zum Beispiel. Das sagt aber schon eins: sie muss altersgerecht sein. Also sie muss eine bestimmte Entwicklungsstufe, das ist nicht immer das gleiche Alter bei einem Kind, aber sie muss eine bestimmte Entwicklungsstufe erreichen. Und sie muss Spaß machen. Das ist für mich eigentlich immer das allererste Kriterium. Und dann wünsche ich mir natürlich auch immer, dass Bücher realistisch sein sollen. Also was die Zeichnung der Gesellschaft betrifft, selbst wenn es fantastische Bücher sind. Was die Zeichnung der Charaktere betrifft, selbst wenn es fantastische Bücher sind. Und dass sie im allerbesten Fall den Kindern tatsächlich ein tieferes Verständnis der Gesellschaft, der Welt und auch von sich selbst geben. Das können Bücher ja tatsächlich erreichen. Und ich denke dann sind es wirklich gute, vielleicht sogar sehr gute Kinderbücher.

Inka Kiwit: Gibt es eine Altersgruppe, eine Entwicklungsstufe, für die Sie bevorzugt gerne schreiben?

Kirsten Boie: Nein, also mir macht es am wenigsten gerne für die Zweijährigen, ja, aber mir macht es ja gerade so viel Spaß, immer wechseln zu können. Und das hält das Schreiben ja auch immer interessant, sonst würde es ja irgendwann Routine werden. Da bin ich ziemlich überzeugt. Und ich finde, verschiedene Altersgruppen sind auf unterschiedliche Weise spannend. Also wenn Sie für Kinder bis zum Ende des Grundschulalters zum Beispiel schreiben, dann brauchen Sie meiner Überzeugung nach immer so etwas Ähnliches wie ein Happy End oder zumindest Zuversicht am Schluss. Es gehen auch offene Enden. Aber mit Zuversicht. Ich wünsche mir ja, dass die Kinder in dem Alter erstmal die Überzeugung gewinnen, dieses Leben und die Welt sind was ziemlich Tolles. Und wenn wir das hinkriegen, dann werden sie später alle Abweichung von dieser Erfahrung überhaupt als Abweichung wahrnehmen können und kritisieren und sich vielleicht auch dagegen auflehnen. Wenn Sie davon ausgehen, alle Menschen leben glücklich und in Freunden zusammen sowie in manchen Büchern, die pure Idylle erzählen. Dann sind sie doch umso erschrockener, wenn sie erfahren, wie manche Kinder leben müssen. Das finde ich wichtig. So bei Jugendlichen, die anfangen alles zu problematisieren und über die Dinge auch tiefer nachzudenken, dürfen nicht nur die Geschichten schon ernster und schwieriger sein, sondern auch die Enden der Bücher. Also da erwarte ich nicht immer unbedingt ein Happy End. So kleines bisschen Zuversicht ist vielleicht ganz schön. Also ich zitiere da immer ganz gerne Benno Pludra, den DDR-Kinderbuchautoren. Ganz großer Autor, der gesagt hat: „Am Ende muss Hoffnung sein. Und dem würde ich mich ganz gerne anschließen.“

Inka Kiwit: Das ist ein schönes Zitat. Ja, ich würde ganz gerne noch ein bisschen mehr über den Prozess des Schreibens erfahren. Ihnen kommt eine Idee für ein Kinderbuch in den Kopf. Dann haben Sie die Charaktere, die Handlung, das Ende im Kopf und Schreiben drauf los. Oder wie läuft das?

Kirsten Boie: Naja, das klingt jetzt so, als hätte ich gleich mehr oder weniger alles. So einfach ist es leider, leider in den seltensten Fällen. Die Idee vom Kinderbuch kommt ganz unterschiedlich. Manchmal kommt mir eine Person den Kopf. Ein Charakter, der eine Rolle spielen soll in dem Buch. Manchmal habe ich schon eine Handlungsidee. Manchmal habe ich auch nur das Thema, also weil mir ein Thema wichtig ist. Das geht dann meistens um gesellschaftliche Themen. Und dann geht die Arbeit los. Also dann mache ich mir Gedanken über die Charaktere, über die muss sich ein bisschen mehr wissen. So ich mache eine Art Mindmap und versuche auch, die Handlung zu entwickeln. Und wenn ich dann das Gefühl habe, dass sich die in groben Zügen habt, dann schreibe ich mir eine Art Ablaufplan. So eine Chronologie der Handlung. Und entscheidend für mich, um anfangen zu können zu schreiben ist, dass ich, glaube ich weiß wie der Schluss aussehen wird. Also das brauche ich sozusagen als Rückversicherung für mich selbst. Ich kann nicht anfangen mit einem Buch, bei dem ich gar nicht weiß, ob ich es zu Ende schreiben kann, weil mir dann kein Schluss einfällt oder so. Das muss ich schon in der Planung haben und weiß aber aus Erfahrung, dass ich diesen Schluss selten so erreiche. Weil sich beim Schreiben natürlich noch unglaublich viel ändert. Das war ja vorher eine relativ abstrakte Planung. Und in dem Augenblick, in dem ich anfange zu schreiben, tauche ich ja überhaupt erst konkret in die Geschichte ein. Und ich erlebe meine Charaktere immer stärker mit allem, was ich über sie schreibe. Und merke dann manchmal, die würden irgendetwas, was ich für sie geplant habe, gar nicht so tun.

Inka Kiwit: Haben Sie vielleicht ein Beispiel für uns, bei dem Sie vielleicht mal sagen könnten, was Sie eigentlich für ein Ende geplant hatten? Gibt es da so einen Einblick von Ihnen?

Kirsten Boie: Hm, also das gab es mehrfach, aber ganz gut beschreiben kann ich das vielleicht am Beispiel vom kleinen Ritter Trenk. Im ersten Band, der eigentlich der einzige bleiben sollte. Das sollte keine Reihe sein und schon gar nicht eine Fernsehserie. Da geht es die ganze Zeit um einen bösen Drachen, vor dem alle Angst haben und der immer wieder in den Gesprächen auftaucht. Und ich wollte, dass am Ende sich herausstellt: Nein, es gibt diesen Drachen nicht. Ich hatte sogar schon die Lösung, also wie ich die Dinge erklären wollte, die durch den Drachen ausgelöst worden waren.

Inka Kiwit: Okay.

Kirsten Boie: Und dann habe ich während des Schreibens gemerkt, das wäre eigentlich unfair, also den Kindern gegenüber. Ich denke da ja an kleine Kinder, wäre das unfair. Die warten ein ganzes Buch lang auf diesen gefährlichen Drachen. Und dann sag ich am Schluss: Ne, denn gibt es ja gar nicht. Das ist einfach Betrug.

Inka Kiwit: Frau Boie, ich bin mit ganz vielen Ihrer Bücher groß geworden. Sie wären für mich damals eine von den Erwachsenen gewesen. Aber trotzdem haben Sie es geschafft, für meine Kinderwelt zu schreiben, ein Gespür für meine damaligen Interessen und vor allem auch Probleme zu haben. Und das gelingt Ihnen ja heute auch noch. Wie machen Sie das? Wie schaffen Sie es, an den Generationen so nah dran zu bleiben?

Kirsten Boie: Na erstmal vielen Dank für das Kompliment und ob ich das immer noch schaffe, muss sich ja von Buch zu Buch sicher neu rausstellen. Überhaupt erst zunächst mal habe ich eine ganz gute Erinnerung an meine eigene Kindheit, nicht nur an die Ereignisse, sondern vor allem an meine Gefühle, Gedanken. Ich habe immer gedacht, das geht jedem Menschen so. Das ist aber offenbar nicht so. Aber bei mir ist es so und das ist natürlich in dieser Hinsicht ein Geschenk. Dann war ich viele Jahre lang Lehrerin und da war ich natürlich auch sehr dicht an den Kindern dran. Wenn Sie Klassenlehrerin sind, bauen Sie über die Jahre eine Beziehung nicht nur zu einer ganzen Klasse auf, sondern auch zu den einzelnen Kindern und erfahren ganz viel von denen über Ihr Leben, Ihre Probleme und so weiter. Und dann habe ich selbst zwei inzwischen natürlich erwachsene Kinder und habe deren gesamte Kindheit erlebt. Und das hieß ja nicht nur Ihre Kindheit, sondern auch die Ihrer Freundinnen und Freunde. Das hat mir reichlich Stoff gegeben. In den letzten Jahren haben sich Kindheiten natürlich sehr verändert, also vor allen Dingen durch den Einzug der digitalen Medien ins Kinderzimmer. Aber auch davon bekomme ich durchaus einiges mit, inzwischen zum Teil durch die Kinder der Freunde und Freundinnen meiner Kinder, durch die Nachbarschaft, durch die vielen Veranstaltungen, die ich immer noch mit Kindern mache. Also insofern habe ich das Gefühl, ich bin nicht so ganz weit weg davon. Aber ich bin nicht mehr so nah dran wie ich das zur Zeit der Kindheit meiner Kinder war.

Inka Kiwit: Hm, haben Sie irgendwelche, ich weiß nicht, Tools, die Sie benutzen? Sind Sie auf Instagram. Scrollen Sie auf der „For You“-Page durch TikTok? Halten Sie sich irgendwie up-to-date?

Kirsten Boie: Ja, also TikTok mache ich nicht. Aber ich bin praktisch täglich bei Instagram und Facebook unterwegs. Facebook erreicht ja inzwischen die jüngeren Menschen nicht mehr. Also es ja inzwischen. Und auch Instagram stelle ich fest, dass inzwischen doch sehr stark in die höheren Altersgruppen abgewandert. Ich gucke viel bei YouTube.

Inka Kiwit: Haben Sie manchmal bei der Entwicklung so Gedanken wie: Ist das jetzt zeitgemäß, was ich gerade schreibe? Haben Sie solche Gedanken?

Kirsten Boie: Ich habe eine Serie geschrieben. Über die Kinder aus dem Möwenweg. Gibt es bei Ihnen auch, als ja Serie. Da heißt der letzte Band „Ferien im Möwenweg“. Und da geht es auch schon um Handynutzung. Also ein Junge hat sein Handy dabei, der älteste. Und da habe ich überlegt, ich weiß nicht, wann ich das geschrieben habe. Es ist schon ein paar Jahre her. Bei Kommunikation: soll ich noch schreiben SMS oder schon WhatsApp? Und dann habe ich mich für WhatsApp entschieden, weil ich dachte, das wird sein wie mit all diesen Geschichten. Das Neue wird das Alte ablösen. Und das haben wir ja auch erlebt. Ich weiß nicht, wer heute noch SMS schickt. Aber dann kam die Vorschrift, dass WhatsApp ja für Kinder unter, ich weiß nicht was, 14 damals noch offiziell nicht nutzbar sein sollte. Im Buch machen sie es jetzt mit zehn, also das sind dann so Schwierigkeiten. Da können Sie manches nicht absehen.

Inka Kiwit: Kann denn Kinderbuchliteratur dann überhaupt zeitlos sein?

Kirsten Boie: Ja, das glaube ich schon. Aber kaum Bücher, die in der realen Gegenwart spielen, denke ich, weil sich die so verändert, dass Kinder manches auch gar nicht mehr verstehen können. Ich nehme jetzt mal ein Beispiel nicht von mir, sondern von Erich Kästner. „Emil und die Detektive“, das ist ja eigentlich ein richtig spannendes Buch. Und da wird einer abgestellt am Telefon zu sitzen, weil in der Familie haben sie nämlich ein Telefon. Und auf die Weise ist es möglich, sich zu verständigen. Dann glaube ich, ist das für heutige Kinder ganz schwer zu verstehen. Und viele der alten Kinderkrimis, ich war leidenschaftliche Leserin der „Fünf Freunde“ von Enid Blyton zum Beispiel. Da bin ich ganz sicher, dass Kinder sich heute nicht bewusst - aber das ist ja ein Gedanke, der spontanen auftaucht - ganz oft fragen: Ja, warum um Himmels Willen rufen die jetzt nicht jemanden an?

Inka Kiwit: Ein kurzer Einschub von mir an dieser Stelle. Uns erreichen bei KiKA jeden Tag Anfragen von Eltern, die sich viele der alten Kinderserien aus Ihrer eigenen Kindheit bei uns im Programm zurückwünschen. Ja, weil sie mit den aktuellen Serien einfach nichts anfangen können. Und wir kommen dem oft nach. Aber unsere Antwort, die ähnelt oft dem, was Kirsten Boie hier beschreibt. Nicht immer passen einige der Film- und Serienklassiker in ein Medienangebot von heute. Die Lebenswelt der jetzigen Generation, ja die ist einfach eine andere. Und wenn sie dieses Thema interessiert, dann finden Sie mehr dazu auf erwachsene.kika.de.

Inka Kiwit: Was glauben Sie denn, Frau Boie, welche Rolle spielt Literatur beim Aufwachsen der Generation Alpha? Könnte die Rolle größer sein, Ihrer Meinung nach?

Kirsten Boie: Nein, das würde ich mir natürlich wünschen.

Inka Kiwit: Klar, Sie sind Autorin.

Kirsten Boie: Das würde ich mir natürlich wünschen. Untersuchung zeigen immer so, dass es so um die 30 Prozent richtige Leser gibt. Also Kinder, die tatsächlich zum Vergnügen lesen. Das ist ein Prozentsatz, der hat sich interessanterweise in den letzten 50, 60 Jahren nicht geändert. Das bedenkt man manchmal so nicht. Aber es wird für die Kinder natürlich sehr viel schwieriger, weil sie so viele andere Medien zur Verfügung haben, die alle ausnahmslos leichter zugänglich sind., Lesen ist zunächst mal, bis man's wirklich automatisiert und gut und schnell kann, eine anstrengende Tätigkeit. Und da muss man große Hürden überwinden. Insofern ist meine Befürchtung, dass es eher weniger als mehr werden wird. Es gibt Gründe, weshalb ich das auch sehr bedauere. Ich glaube, beim Lesen passieren ja Dinge, die nicht passieren bei der Rezeption von anderen Medien oder beim Umgang mit anderen Medien, die ich deshalb nicht abwerten will. Also ich gucke selbst sehr gerne gute Filme, inzwischen auch gute Serien und nutzt die digitalen Medien intensiv. Also das will ich ja alles haben. Aber beim Lesen habe ich vor mir nichts als Papier, mit kleinen schwarzen Zeichen. Oder einen Reader mit kleinen schwarzen Zeichen. Wie kommt es, dass wenn ich dieses Papier angucke, ich trotzdem lachen muss. Ich manchmal weinen muss. Ich manchmal nicht weitermachen kann und die nächsten Seiten nur überfliege, weil es mir zu schrecklich ist. Wie kommt das? Da passiert ja ganz, ganz viel in meinem Kopf. Beim Lesen entwickeln wir immer innere Vorstellungen in quasi so einem Dialog mit dem Buch. Der Text weckt bei uns, das merken wir nicht bewusst, der weckt bei uns Gefühle, die wir mal hatten. Erinnerungen an Menschen, die wir gekannt haben. Erlebnisse, die wir hatten. Manchmal blitzt das ganz kurz auf, aber in der Regel empfinden wir das sozusagen als zur Geschichte gehörig. Deshalb ist derselbe Text auch für jeden Menschen ganz, ganz unterschiedlich. Also, was mir beim Wort Vater einfällt, wird was anderes sein als was, was Ihnen einfällt oder was einem Kind einfällt, das täglich geschlagen worden ist. Also unsere Assoziationen sind ganz unterschiedlich. Aber in jedem Fall ist das Buch eigentlich immer genauso das Buch des Lesers oder der Leserinnen, wie des Autors oder der Autorin. Und das heißt: Es löst im Gehirn sehr viel mehr aus. Entschuldigung, wenn ich das jetzt in Richtung Fernsehen sage.

Inka Kiwit: Wir können das verkraften.

Kirsten Boie: Davon gehe ich aus - löst das Buch beim Leser mehr aus als Filme, die ja schon fertige Bilder zeigen. Und dann gibt's eben noch was, was beim Lesen passiert. Ich bin bei Büchern ganz oft in anderen Köpfen unterwegs. Also ich erfahre, was Menschen denken und fühlen. Im Film, wie im Leben, muss ich das aus Mimik, Gestik und so weiter schließen. Ich habe keine Ahnung, was Sie jetzt denken. Vielleicht will ich es auch lieber nicht wissen.

Inka Kiwit: Nur Positives.

Kirsten Boie: Aber das ist eine Tatsache, dass also der einzige Kopf, den wir von innen kennen, ist unserer. Und aufgrund dieses Kopfes schließen wir auf alle anderen Menschen. In Büchern lernen wir ganz viele andere Köpfe kennen und erfahren, was Kinder, wenn wir jetzt von Kinderbüchern sprechen, bei irgendwelchen Erlebnissen gefühlt und gedacht haben. Da wächst unser Wissen ungemein auf diesem Gebiet. Und damit wächst auch unsere Empathie. Wir tun immer so, als wäre das nur die Fähigkeit zum Mitfühlen. Es geht auch darum, zu erschließen, was in anderen Köpfen gerade los sein könnte. Und das ist natürlich eine unglaubliche Leistung von Literatur. Und ich sehe nicht, welches anderen Medium das in ähnlicher Form bieten könnte. Und deshalb wünsche ich mir eigentlich auch, dass Kinder möglichst viel lesen, um diese Möglichkeit wahrnehmen zu können.

Inka Kiwit: Können wir denn als KiKA irgendetwas tun, um das Lesen zu befördern? Oder machen wir das vielleicht auch sogar schon? Oder müssen wir in irgendeine Richtung anders denken als Sender?

Kirsten Boie: Also ich glaube, Sie machen das schon ganz gut. Das muss ich jetzt wirklich einmal sagen. Und Sie haben ja auch so viele Sendungen zum Thema Wissen zum Beispiel, die die Kinder an Themen interessierter machen. Und ich vermute, dass Kinder, die solche Sendung gucken, zum Beispiel auch eher zu Lesern und Leserinnen werden. Aber ich glaube vor allen Dingen das gute Kinderfilme, also damit meine ich jetzt so narrative Filme mit einer Handlungsdramaturgie und Kinderbücher tatsächlich quasi Verbündete sind. Wir haben früher immer nur gesagt: Die Kinder gucken jetzt so viel Fernsehen, da lesen sie weniger. Wenn wir nur auf das Zeitbudget blicken, ist das sicher richtig. Aber es ist natürlich auch so, dass Kinder, die zum Beispiel Zuhause nicht vorgelesen bekommen früh, so ein Gefühl für Handlungsentwicklung gar nicht haben. Und in Geschichten ist es ja so, wenn sie vernünftig erzählt sind, dass ich am Anfang oft schon Vermutungen entwickeln kann, wie es weitergehen und wie es enden wird. Und je mehr Geschichten ich kenne, desto mehr weiß ich darüber, desto stärker sind meine Vermutungen und desto stärker ist auch meine Spannung, weil ich natürlich erfahren will: Ist das wirklich so? Aber Kinder, die nie diese Erfahrung gemacht haben, die haben auch beim Lesen und auch beim Vorlesen nicht diese Erwartung. Weil die gar nicht wissen, dass sie die haben könnten. Und die entwickeln deshalb auch nicht diese besondere Form von Spannung. Und ich erlebe das zum Teil bei Lesungen in benachteiligten Stadtteilen, wo Bücher, die in anderen Stadtteilen. Also wo die Kinder rote Wangen kriegen und quasi nach vorne kriechen, die da sitzen. Und ich sehe Ihre Blicke wandern ab, und sie sind eigentlich nicht mehr bei der Sache. Für die ist es einfach nicht spannend. Und da glaub ich tatsächlich das gute Kinderfilme, die ja mit demselben Mittel arbeiten. Also das eben am Anfang irgendwas angelegt wird, was sich im Handlungsverlauf entwickelt und dann zu einem Ende kommt, dass die helfen können, also, weil Kinder da diese selbe Kenntnis von Handlungsdramaturgie lernen können.

Inka Kiwit: Sie sind ja nicht nur Autorin, sondern auch Drehbuchautoren. Und aus einer Geschichte aus Ihrem allerersten Buch, das hieß „Paule ist ein Glücksgriff“ ist ein Kurzfilm entstanden, den der KiKA 2020 produzieren ließ. Und da geht es um einen schwarzen Jungen, der adoptiert ist und gerne in der Schulvorführung des Krippenspiels den Engel Gabriel spielen möchte. Und die Lehrerin, Mitschüler und Mitschülerinnen sind aber der Meinung, ein Engel müsse blonde Haare haben. Und haben Paule für den König Kasper vorgesehen, so. Paule kann den Engel am Ende dann doch spielen. Also Happy End. Ist auch nur ein Teil aus Ihrem Buch. Wie ist denn das für Sie als Autorin? Die Geschichte, die ist 35 Jahre alt, und Sie haben Sie damals so aufgeschrieben, sind immer noch zufrieden damit. Und dann kommt jemand und verwandelt das in einen zerstückelten Text mir Anweisungen und Regieanweisungen. Ist das ist das für Sie schwierig? Oder also kommen Sie damit gut zurecht?

Kirsten Boie: Ja, sehr gut. Also, in diesem Fall habe ich ja am Drehbuch mitgearbeitet. Das mache ich ja längst nicht immer. Aber ich habe es noch nicht erlebt. Also nichts, was nach meinen Büchern gedreht worden ist, ist ohne meine Mitarbeit entstanden. Und das heißt ja auch immer ohne meine Zustimmung. Es ist mir immer wichtig, einbezogen zu sein, zumindest bisher immer gewesen. Und dann freue ich mich eigentlich immer. Und es ist mir jedes Mal so gegangen. Das ich sehr beeindruckt, war von der Arbeit all derer, die an der Entwicklung von Filmen und Serien beteiligt waren. Also weil das sind ja in der Regel, also wenn jetzt Filme für den KiKA entstehen, sind es ja solche Profis, dass man die eigentlich nur bewundern kann. Und dass die häufig auch Dinge bemerken, die ich im Leben nicht bemerken würde. Und es ist schön. Es ist schön, wenn man mit Menschen zusammenarbeitet, bei denen man das Gefühl hat, die können und wissen ganz vieles, was man selbst nicht kann und weiß. Und man kann noch etwas lernen.

Inka Kiwit: Was war denn bei der im Vergleich zur ursprünglichen Geschichte: Das Buch „Paul ist ein Glücksgriff“ und dem Kurzfilm „Paul und das Krippenspiel“. Was war denn da anders? Hat sich etwas verändert?

Kirsten Boie: Also ich glaube, die gravierendste Veränderung ist, dass Paul im Buch ein adoptiertes Kind ist. Und dafür völlig unabhängig davon, ob wir das jetzt aus anderen Gründen gewollt hätten oder nicht. Dafür, dieses Thema noch anzuspielen, wäre ja in 15 Minuten überhaupt nicht die Zeit gewesen. Es ging hier im Grunde um das Thema jeder kann ein Engel sein. Spielt keine Rolle, welche Hautfarbe wir haben oder welche Augenform. Oder noch nicht mal welche Religion. Die Maria ist eine kleine Muslima. Und diese Aussage, die kann ich auch mit dieser Veränderung problemlos erzählen.

Inka Kiwit: In einem Ihrer Bücher, Frau Boie, da taucht der Begriff Schokokuss-Maschine auf. Das haben sie nachträglich geändert, ändern lassen, weil er vorher das N-Wort beinhaltete. Erwarten Sie oder hoffen Sie, dass Ihre Bücher auch in der Zukunft geändert werden für kommende Generation?

Kirsten Boie: Also in dem Fall war es so, dass das N-Wort zur Zeit, als ich das Buch geschrieben hat, noch überhaupt nicht negativ konnotiert war. Das hat sich dann aber verändert. Und ich denke, wir sollten nicht Bezeichnungen für Menschen verwenden, durch die sie sich selbst diskriminiert fühlen. Also das heißt, wenn schwarze Menschen dieses Wort ablehnen, dann haben wir nicht das Recht es zu verwenden. Und dann ist es richtig und nötig, das zu verändern. Also ich glaube auch, es gibt ja dieses berühmte Beispiel von Astrid Lindgren. Wo Pippis Vater, der eben auch ein König wurde - die Vorsilbe verwende ich jetzt hier nicht - das ist dann auch geändert worden. Und ich bin felsenfest überzeugt, dass Lindgren sich das auch gewünscht hätte. Also ich bin sicher, die hätte auch nicht gewollt, dass sie sich diskriminiert fühlen. So. Und so ist es bei meinen Büchern auch. Das Problem ist, dass Sprache sich natürlich permanent ändert, sehr schnell ändert. Und das ist vor allen Dingen auch der Fall bei gesellschaftlich diskriminierten Gruppen, weil die Bezeichnung diese negative Konnotation annimmt.

Inka Kiwit: Ich würde ganz gerne mit Ihnen einen Blick in die Zukunft werfen. Erstmal kurz für unsere Zukunft als Kinderkanal: Gibt es einen Wunsch von Ihnen an uns, an den Kinderkanal direkt? Wie wir die Zukunft der Generation Alpha mitgestalten sollten, was wir verbessern können und wo wir vielleicht auch unseren Blick einfach schärfen sollten?

Kirsten Boie: Also wenn Sie so direkt fragen: Ich würde mich freuen, wenn der Kinderkanal es schaffen würde, sich für viel breitere Bevölkerungsschichten zu öffnen. Ich weiß wieder von eigenen Lesungen, bei denen ich am Anfang immer sage: Ich bin die Frau, die die Bücher vom Ritter Trenk geschrieben hat. Oder vom Möwenweg. Kennt das jemand von euch? Und dann melden sich in bildungsorientierten Gegenden ganz, ganz, ganz, ganz viele Kinder. Und wenn ich frage, wer kennt es aus dem Fernsehen, melden sich immer noch sehr, sehr viele Kinder. Das heißt, die gucken KiKA. Wenn ich das in benachteiligten Gegenden frage, gehen in der Regel keine Finger in die Luft. Und das heißt diese Kinder gucken den KiKA nicht. Und dabei wären genau das die Kinder, für die der KiKA ganz, ganz wichtig sein könnte. Also Kinder mit Migrationshintergrund, mit Fluchterfahrung. Aber auch Kinder aus benachteiligten deutschen Familien. Und mir fällt nicht so schnell eine Lösung ein. Aber ich glaube, das sollte der KiKA im Blick haben. Ich glaube, was dabei wichtig wäre, das ist Menschen aus diesen Gruppen ganz stark einzubeziehen. Als Ratgeber, vielleicht auch als Autor*innen. Das würde ich dem KiKA als Wunsch mit auf den Weg geben.

Inka Kiwit: Bleiben wir noch kurz bei den Wünschen: Wenn Sie sich für die Generation Alpha etwas wünschen dürften, eine Vision beschreiben, wie die Gesellschaft und die Welt aussieht, wenn diese Generation erwachsen ist. Was würden Sie sich für die Generation Alpha wünschen? Was ist Ihre Vision?

Kirsten Boie: Also ich wünsche mir für die Generation Alpha zunächst mal eine gerechtere Gesellschaft bei uns. Vor allen Dingen eine bildungsgerechtere Gesellschaft. Daran hängt nämlich alles Weitere. Ich wünsche mir eine gerechtere Welt. Wir erleben im Zusammenhang mit der Pandemie gerade, wie wichtig das auch für uns wäre. Ich wünsche mir, dass es bis dahin geschafft wäre, die Umweltzerstörung zu stoppen. Also ich glaube, aber all das werden wir nicht mehr schaffen für die Generation Alpha umzusetzen. Damit belasten wir sie, und das muss sie in die Hand nehmen. Und ich wünsche mir, dass es nach wie vor ganz, ganz viele Geschichten geben wird.

Inka Kiwit: Sagt Kirsten Boie, preisgekrönte Autorin vieler, vieler Kinderbücher und Drehbuchautorin. Vielen lieben Dank für das tolle Gespräch Frau Boie.

Kirsten Boie: Ihnen vielen Dank.

Inka Kiwit: Eine Zukunft, komplett unabhängig von sozialer und ethnischer Herkunft, vor allem, wenn es um gleiche und gerechte Chancen beim Zugang von Bildung geht. Genau das wünsche ich der Generation Alpha auch. Spannend fand ich ja im Gespräch mit Kirsten Boie, wieviel Vorarbeit und wieviele Gedanken dann doch in die Geschichte fließen, bevor das eigentliche schreiben beginnt. Und wie sehr Sie noch immer an der Lebenswelt der jetzigen Generation dranbleibt, um ja, um eben diese zeitgemäßen Inhalte schreiben zu können. Ich muss an dieser Stelle einfach mal sagen, dass ich mich so darüber freue, wie viele verschiedene und spannende Menschen wie hier bei „Generation Alpha – der KiKA-Podcast“ begrüßen dürfen. Alle zwei Wochen übrigens. Und wenn sie bei unseren nächsten Folgen mit dabei sein möchten, dann ist das gar kein Problem. Jeden zweiten Mittwoch gibt es eine neue Episode von unserem Podcast. Sie finden uns in der ARD Audiothek und auf den gängigen Podcast-Plattformen, aber auch ganz einfach unter kommunikation.kika.de. Das ist nämlich unser Kommunikationsportal, in dem es übrigens auch alle Transkripte der Folgen zum Nachlesen gibt. Also bleiben Sie gesund und bis zum nächsten Mal. Ciao.

[Outro] „Generation Alpha – Der KiKA-Podcast“

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